Deutsche Identität als Minderheit –
was bedeutet das?

Menschen, die als deutsche Minderheit im Ausland leben, sind geprägt von zwei oder mehr Kulturen und Sprachen. Ihre individuelle und kollektive Identität formt sich durch das individuelle soziale Umfeld, den Austausch mit der Mehrheitsgesellschaft sowie durch die Entfaltungsmöglichkeiten der eigenen Gruppe. Sprache, Religion, Traditionen und kulturelles Erbe sind europarechtlich geschützte Faktoren für die Identität als Minderheit. Jedoch wird das in den jeweiligen Ländern auf unterschiedlichem Niveau umgesetzt. Das bedeutet für die Angehörigen der deutschen Minderheiten vor allem, diese Begriffe mit Leben zu füllen, sie bewusst zu pflegen und an die nächsten Generationen weiterzugeben.

Identität oder auch mehrere Identitäten bilden sich als Gefühl der Zugehörigkeit zu einer oder mehreren Gruppen oder Ideen eines Landes. Der Einzelne empfindet sich als deutsch aufgrund der Geschichte, der Vorfahren oder durch ein Bekenntnis (auch ein religiöses) wie durch neue Beziehungen zum heutigen Deutschland.

Deutsche Identität als Minderheit ist nur denkbar in kultureller und politischer Interaktion mit der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft. Historisch hat sie sich meist unter politischem Druck und Zensur definiert, heute bestimmt in vielen Staaten eine freiheitliche Grundstimmung das Identitätsgefühl, welches oft von einer neuen europäischen Perspektive beeinflusst wird.

Die junge Generation kommuniziert ihre deutsche Identität über neue mediale Plattformen und den interkulturellen Austausch. Ihre familiäre Erzählung als Deutsche wird neu ausgehandelt.

Sprache

Ein wichtiger Bestandteil der Identität ist die Sprache. Durch Sprachverbote und Zensur konnte aber das Deutsche in den ost- und mitteleuropäischen Staaten nach 1945 oftmals nicht mehr praktiziert werden, es entstand eine Lücke in der Weitergabe zwischen den Generationen. Dazu kommt, dass viele Ältere kein Hochdeutsch beherrschen, die jüngere Generation spricht hingegen kaum noch Dialekt.

Dennoch haben sich Sprachinseln des Sächsischen, Bayrischen, Fränkischen, Alemannischen, Niederdeutschen, Oberdeutschen und Mitteldeutschen sowie Mischformen davon erhalten. In der Russischen Föderation findet man Formen von Pfälzisch, Hessisch, Südfränkisch, Schwäbisch, Baiyrisch, Wolhyniendeutsch und Niederdeutsch (Plattdeutsch).

Diverse Projekte fördern seit den 1990er Jahren die Wiederbelebung der Mundarten. Oft findet auch eine Wechselwirkung statt: Die deutsche Minderheitensprache übernimmt Wortschatz und Strukturen der Umgebungssprache, aber auch ein umgekehrter Prozess ist zu beobachten. Neben dem familiären Sprachgebrauch ist die Schulpolitik der Länder ein maßgeblicher Faktor für den Spracherhalt. Das außerschulische Lernangebot von Begegnungsstätten, Instituten und Verbänden ist ebenfalls wichtig und erfreut sich zunehmender Beliebtheit auch bei den Angehörigen der Mehrheit.

Deutsche Identität leben – Traditionen weitergeben

Eine große Rolle im kulturellen Leben der deutschen Minderheiten spielt die Pflege der Traditionen. Folklorefestivals, Trachtenumzüge, kulinarische Besonderheiten, regionale Festbräuche – mit Traditionen werden die Sinne vielfältig berührt, sie schaffen Zugehörigkeit und sind Teil der Gruppenidentität. Dabei unterliegen auch Traditionen einem Wandel. Ob es sich um überlieferte Bräuche oder um neue Feste und erfundene Trachten handelt, ist nicht ausschlaggebend.

Es klingt paradox, aber um lebendig zu bleiben, müssen Traditionen immer wieder aktualisiert werden. Das Maibaumaufstellen, das so genannte Bärenführen in Schlesien oder der „Urzelnlauf“ in Siebenbürgen sind Beispiele für eine innovative Wiederbelebung von profanen Bräuchen.

Auch beim Chorsingen in deutscher Sprache auf baltischen Liederfesten oder kasachischen Folklorefestivals sind neben den altbekannten Volksliedern auch Neuinterpretationen, Mixturen und Aufnahmen moderner Musik- und Tanzstile zu sehen und zu hören.

„Heimat, Identität und Glaube bestimmen maßgeblich das menschliche Sein, weshalb die besondere Seelsorge für nationale Minderheiten eine wichtige Aufgabe der Kirchen ist. Die gemeinsame Religion prägt in großem Maße die Kultur und Lebensweise und stellt ein verbindendes Element für die oft zersplittert lebenden Angehörigen nationaler Minderheiten dar.“

Hartmut Koschyk, Bundesbeauftragter für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten (2013-2017)

Deutsche Identität leben – Glaube und Religion

Die deutschen Auswanderer brachten vom Mittelalter bis zum 19. Jh. verschiedene Glaubensrichtungen nach Ost-, Mittel- und Südosteuropa. Diese unterschieden sich zumeist von der Konfession der ansässigen Mehrheitsbevölkerung. Es waren Katholiken, Lutheraner, Reformierte, Pietisten, Baptisten, Mennoniten und andere Freikirchen, deren florierendes Gemeindeleben Städte und Dörfer prägte. Unter den stalinistischen Regimes in Russland und später in Mittel- und Osteuropa wurde die Religionsausübung massiv behindert und teilweise verboten. Mit dem Ende des Kalten Krieges erfolgte eine Wiederbelebung bzw. Neugründung der Gemeinden, oft mit eigenfinanzierten Kirchenneubauten.

Die heutigen Angehörigen dieser Gemeinden identifizieren sich stark mit ihren Kirchen und Bethäusern. Sie sind nicht nur Räume der deutschsprachigen Andacht, sondern auch zentrale Orte des gemeinsamen deutschen Singens und der Erinnerung an die Vorfahren. Auch das persönliche Zwiegespräch mit Gott beim Beten findet häufig in deutscher Sprache statt. Selbstredend haben die hohen kirchlichen Feiertage einen besonderen Stellenwert für die deutschen Minderheiten, denn sie sind Ausdruck einer generationenübergreifenden Glaubenskontinuität.

Deutsche Identität leben – Erinnerung an Deportation und Unterdrückung

Die politische Dimension von ethnischer Identität wird deutlich, wenn es um Ausweisung, Deportation, Enteignung oder Vertreibung geht. „Das stärkste Gefühl der Zugehörigkeit entstand während der Deportation“, so erinnert sich eine Deutsche aus Georgien. Die Deportation der Deutschen in Lager und die zwangsweise Eingliederung in die Arbeitsarmee (russisch: Trudarmija) innerhalb der Sowjetunion ab 1941 sind prägende Momente der familiären Erinnerung der Russlanddeutschen. Nach 1945 gab es auch in anderen Ostblock-Ländern Zwangsarbeitslager für die deutschstämmige Bevölkerung sowie Deportationen in die Sowjetunion. Diese kollektiven Schicksale werden gerade erst aufgearbeitet.

Die nach 1945 in den Siedlungsgebieten noch verbliebenen Deutschen wurden ihrer kulturellen und nationalen Identität durch Assimilierungsdruck und Sprachverbot weitgehend beraubt. Deutschsprachige Inschriften auf Gebäuden, Friedhöfen oder Denkmälern wurden unkenntlich gemacht; deutsche Familiennamen wurden geändert. Deutsch konnte nur im Geheimen oder in der Familie gesprochen werden.

Flucht und Vertreibung hat auch die Heimatverbliebenen stark geprägt. Sie haben dazu geführt, dass sie von ihren Familien auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs getrennt waren.

Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung der Deutschen nach 1945 konnte in vielen Ländern des ehemaligen Ostblocks erst seit den 1990er Jahren gepflegt werden. In Ungarn wird z.B. seit 2012 am 19. Januar der Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung zwischen 1946 und 1948 gedacht.

Deutsche Identität leben – Jugend und Nachwuchs fördern

Die Jugendarbeit der deutschen Minderheit bildet einen Förderschwerpunkt der Bundesregierung und hat auch für die Selbstorganisationen der deutschen Minderheiten höchste Priorität. Denn in der jungen Generation liegt die Zukunft der deutschen Minderheit.

Die Liste der vom Bundesministerium des Innern unterstützten Jugendprojekte ist lang:
Dazu gehören beispielsweise Miro Deutsche Fußballschulen in Polen, Sommersprachlager in Kasachstan und Russland, Fahrradtouren von der Ukraine nach Deutschland. Sommercamps und Freizeitveranstaltungen für Jugendliche der deutschen Minderheiten, die Deutschkurse und Workshops mit sportlichen Aktivitäten verbinden, leisten einen wichtigen Beitrag zur Pflege der deutschen Identität und Sprache bei der jungen Generation der deutschen Minderheiten. Besondere Bedeutung nehmen auch grenzüberschreitende Jugendprojekte ein. Sie dienen der besseren Vernetzung der deutschstämmigen Jugendlichen in ganz Mittel-, Südost- und Osteuropa. Zudem werden viele Jugendvereine der Minderheiten vom Bundesministerium des Innern gefördert, wie zum Beispiel die Deutsche Jugend Ungarn (DJU) oder die Jugendaktivitäten des Bundes der Jugend der Deutschen Minderheit in Polen (BJDM).

Die heutige Generation der deutschen Minderheiten lebt nicht mehr in zwei Welten, sondern empfindet sich als Teil eines Globalisierungsprozesses, in dem national definierte Identitäten zunehmend eine nachrangige Rolle spielen. Die Mehrsprachigkeit sowie die multikulturellen Kompetenzen dieser Generation bieten enorme Vorteile. Trotzdem oder gerade deswegen begeben sich viele auf die Suche nach den Spuren ihrer deutschen Herkunft. Das vom Goethe-Institut zuerst für Tschechien initiierte Projekt Schaufenster Enkelgeneration, in dem die identitätsstiftende Rolle der deutschen Sprache für die dritte Generation der deutschsprachigen Minderheit untersucht wurde, zeigt eindrücklich die Bandbreite der individuellen Zugehörigkeit.

Deutsche Identität leben – Künstlerisch arbeiten

Kulturelle Ausdrucksformen in Kunst, Literatur, Musik und darstellender Form sind wesentliche Bestandteile der Identität. Ihre individuelle Ausprägung ist untrennbar mit gesellschaftlichen Entwicklungen verbunden. Sie zeigt sich im Zugehörigkeitsgefühl zu einer Volksgruppe ebenso wie in der Reflexion der Mehrheitskultur.

Der Dichtkunst bietet die Zweisprachigkeit eigene Spielräume, welche beispielsweise die ungarndeutsche Lyrikerin Valeria Koch für ihr künstlerisches Werk nutzte. Ob Hochliteratur oder Heimatdichtung – die seit den 1970er Jahren verbesserten Infrastrukturen und Aktionsräume eröffnen der gefühlten Heimatlosigkeit mit Kampagnen wie „Greif zur Feder!“ neue Felder künstlerischen Ausdrucks.

Auch der Transfer der Kultur aus Deutschland in das eigene Lebensumfeld spielt für die Minderheiten eine wichtige Rolle. Zahlreiche deutsche Institutionen fördern Theaterproduktionen, Atelierprojekte und Lesungen zu diesen Themen. Kunst und Literatur der unterschiedlichen deutschen Gruppen sind Teil der gesamten deutschen Kultur. Sie bereichern beide Länder, was oft übersehen wird.

Medien

Den deutschsprachigen Medien der Minderheiten im Ausland kommt eine besondere Rolle zu, denn sie bieten eine Möglichkeit, sich der eigenen ethnokulturellen Identität zu vergewissern.

Zeitungen der deutschen Minderheit waren oft die einzigen Informationsquellen und Kommunikationsforen der weit zerstreuten deutschen Minderheit in der Diaspora. Die Moskauer Deutsche Zeitung beispielsweise wurde und wird in mehr als 500 Dörfer in Russland versendet.

Heute sind die meisten Zeitungen online zugänglich. Die Vielfalt und Breite ihrer Themen sind groß. Berichte über lokale Feste und Bräuche, Kommentare zur deutschen Außenpolitik bis hin zu Nachrufen prägen das Bild. Die Zeitungen verstehen sich als Medien des bilateralen Dialogs und dienen als Visitenkarten der deutschen auswärtigen Kulturpolitik. Jedoch kämpfen fast alle Zeitungen der deutschen Minderheit – von der einzigen Tageszeitung in Osteuropa, der Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien, über Das Karpatenblatt, die Hermannstädter Zeitung bis hin zu den Allensteiner Nachrichten – mit Auflagenrückgang.

Deutschsprachige Fernseh- und Hörfunkbeiträge, deren wichtigste Funktion nach 1990 darin bestand, sich in der deutschen Sprache frei zu äußern, werden heute auf den neuen digitalen Plattformen, wie etwa Twitter, Facebook und Youtube gesendet. Besonders hervorzuheben ist das von den Medien der deutschen Minderheiten entwickelte Social-Media-Projekt Mind_Netz. Es dient nicht nur der Vernetzung und Information der deutschen Minderheiten, sondern vor allem ihrer Zukunftssicherung durch die mediale Anbindung der nächsten Generation.